Gabriele Beßler

 (1959 bis 2019)

Die Bildende Kunst der Vergangenheit und Gegenwart, große Neugierde auf die verschiedenen Formen kulturellen Schaffens und das Bedürfnis, die verschiedenen Eindrücke schreibend sich zunächst anzueignen und dann, verwandelt, anderen mitzuteilen, waren für Gabi – neben den Begegnungen mit Menschen – immer das wichtigste Lebensmittel. Dabei hat sie kein Thema so lange beschäftigt wie die Geschichte und Aktualität der europäischen Kunst- und Wunderkammern, das sie sich auf die unterschiedlichste Arten erschlossen hat:

Schauend vor Ort, lesend und nachdenkend am Schreibtisch, organisierend in ihrem „Kunstraum WUNDERKAMMER“ in Stuttgart (2003 bis 2007) und, natürlich, schreibend, nicht nur in ihrer Monographie „Wunderkammern – Weltmodelle von der Renaissance bis zur Kunst der Gegenwart“.

Besonders wesensgemäß waren ihr die sich durchdringenden, befruchtenden Zugangsmodi und thematischen Verknüpfungen – oft über lange Zeiträume – zwischen Vergangenheit und Moderne, zwischen Mikro- und Makrokosmos, zwischen Rezeption und Aktion, zwischen Interaktion und Eigensinn.

Studium

1959 in Frankfurt am Main geboren, studierte Gabi zunächst in Frankfurt (1978 bis 1981) und dann in Köln (1982 bis 1986) natürlich Kunstgeschichte, aber auch Germanistik und Archäologie.
Mit einer von Prof. Dr. Gisela Zick (1930 bis 2019) betreuten Arbeit über den Worpsweder Maler, Zeichner und späteren politischen Aktivisten Heinrich Vogeler erwarb sie den Grad einer Magistra Artium.

Bereits vor ihrem Studium hatte sie sich journalistisch betätigt: Als Mitgründerin der innovativen Stadtzeitung „Frankfurt Life“ mit den Ressorts Kunst, Film, Kinder- und Jugendliteratur (1978/79), dann während eines Praktikums bei der „Frankfurter Neue Presse“ (1982). Nach ihrem Umzug nach Köln, das ihr bereits seit ihrer Kindheit bekannt war und zur vertrautesten Stadt ihres Lebens wurde, hospitierte sie in der Abteilung Hörfunk des WDR (1984) und schrieb anschließend kontinuierlich, vornehmlich als Kunstkritikerin, für die verschiedensten Publikationsorgane wie Ausstellungskataloge, Zeitschriften – wie die Kunstchronik – und Zeitungen, darunter FAZ, Kölner Stadtanzeiger, Rheinischer Merkur, Stuttgarter Zeitung.

1988 absolvierte sie ein Volontariat im Reisebuch-Lektorat des DuMont Buchverlags, Köln, dem sie – solange die Arbeitsbedingungen angemessen blieben – insbesondere in Zusammenarbeit mit Frank Rainer Scheck (1948 bis 2013) als Autorin und Lektorin verbunden blieb. Weitere Buchproduktionen und Lektorate u.a. für die Edizione Mazzotta, den Düsseldorfer Kunstverein, die Zeitschrift „sedimente“ des Zentralarchivs des deutschen Kunsthandels sowie für den Benedikt Taschen Verlag, das Redaktionsbüro redsign u.a. schlossen sich an.


Wasserwesen

Bereits im Rahmen ihrer Magisterarbeit über die Illustrationen Heinrich Vogelers zu Oscar Wildes Erzählungen hatte sie ein besonderes Interesse einerseits für den Ort Worpswede, andererseits noch mehr aber für die Narrative und Motivik der vielfältigen weiblichen Wasserwesen entwickelt, das 1995 in der bei DuMont erschienenen kulturhistorischen Monographie „Von Nixen und Wasserfrauen“, in der sie vornehmlich die bildlichen Darstellungen des Wasserfrauenmotives untersuchte, mündete.

Kuratorin: Die Simultanhalle – Villa Merkel – Bahnwärterhaus, Esslingen

Neben ihren kurz- und langfristigen publizistischen Aktivitäten übernahm sie 1992/93 die Leitung der freien Kunstinitiative „Simultanhalle“ in Köln-Volkhoven und kuratierte dort zahlreiche Ausstellungen Kölner und rheinischer Künstler:innen. Die „Simultanhalle“ war und blieb ihr ein Ort der produktiven Auseinandersetzung, des Ringens um den Fortbestand des gefährdeten Kunstorts und, nicht zuletzt, der Freundschaft.

Ab 2000 neben Köln auch in Stuttgart ansässig, verfolgte sie den kuratorischen Ansatz weiter, so mit der Ausstellung „Von Schimären und anderen Menschen“ (Villa Merkel, Bahnwärterhaus, Esslingen am Neckar 2002). In gewisser Weise ein Abschluss ihrer langen Auseinandersetzung mit den oszillierenden Vorstellungen von weiblichen Mischwesen war dann der gemeinsam mit der Künstlerin, Logopädin und Freundin Wiltrud Föcking vom Sirenen-Mythos ausgehende, realisierte audiovisuelle Parcours „… und lausche meinem Sang …“ zu Stimme und Imagination in der Akademie des Klosters Weingarten bei Ravensburg (2007).


Kunstraum WUNDERKAMMER

Bereits 2003 hatte Gabi in der Rosenstraße im Stuttgarter Bohnenviertel den privaten nichtkommerziellen „KunstRaum WUNDERKAMMER“ eröffnet, ihr „Lädle“. Dort hat sie, ausgehend vom Phänomen der historischen vormodernen Wunderkammern, mit 30 verschiedenen Ausstellungen, Performances und Projekten bis 2007 insbesondere den Aspekt der Raumwahrnehmung aus künstlerischer und interdisziplinärer Sicht bearbeitet. Hier kam sie in enger Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Künstler:innen ihrer Vision einer Verschränkung von Denken, Erfahren, Sehen und Leben, sozusagen einer Transformation des Prinzips „Wunderkammer“ in die intellektuellen und sozialen Beziehungen, so nahe wie möglich.  


Monographie Wunderkammer

Diese Projekte in der Stuttgarter WUNDERKAMMER als zeitgenössische Adaptionen eines erneut aktuellen Phänomens flossen auch maßgeblich in ihre in zwei Auflagen (2009 und 2012) erschienene Monographie „Wunderkammern – Weltmodelle von der Renaissance bis zur Kunst der Gegenwart“ ein. Das Buch ist einerseits eine Geschichte der historischen Wunderkammern, eine Beschreibung der prominentesten Sammlungsorte und – so Jürgen Kaube – „eine Erörterung, was sich die Frühneuzeit unter Wunder, unter Raum und unter Erkenntnis vorstellte“. Darüberhinaus kann man den Band mit Toni Wappenschmidt als den „ersten Versuch [betrachten], die Kunst- und Wunderkammer als holistische Inszenierung zu betrachten, da dieser eher die aktuelle künstlerische Auseinandersetzung mit dem Raum zu erläutern vermag als das Wesen der historischen Wunderkammer“.

Bis zu ihrem Tod im September 2019 hat sich Gabi weiterhin wach und ungebeugt, nun vornehmlich wissenschaftlich arbeitend, neue Welten im Kopf erschlossen und alte Fäden aufgenommen und weitergesponnen, so ihre lebenslange Liebe zu Kinderbüchern mit ihrem Beitrag über die Produkte des Verlags J.F. Schreiber aus Esslingen während des Ersten Weltkriegs (2016 und 2018). Profund bleiben der ihr Wissen zusammenfassende online-Beitrag „Kunst- und Wunderkammern“ im Rahmen des Projekts „Europäische Geschichte Online (EGO)“, herausgegeben vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz, eine Studie über „Vormoderne städtische Sammlungen“ (beide 2015) sowie der erst posthum erschienene Aufsatz „An den Rändern fließend“ über kommunale Sammlungsstrukturen in Residenzstädten im Kontext des Projekts „Residenstädte im Alten Reich (1300-1800)“ der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.

Institutionellen Bindungen und Statusfragen abhold wie menschlichen Beziehungen zugetan, freiwillig autonom und eingebunden zugleich, habituell eine Künstlerin des Intellekts, war ihr Leben zu kurz für alle ihre Interessen, Ideen und Initiativen und doch lang genug, um Bleibendes geschaffen zu haben.

Stuttgart, im Mai 2023
Joachim J. Halbekann